...weil nichts anderes in mir so zwingend ist...

Heute möchte ich an eine Künstlerin erinnern, an Christa Wolf. 
Sie begleitet mich seit meiner Jugend. Ihre Bücher waren und sind immer wieder Wegweiser, Fundstätten und Orte tiefsten Eintauchens in eine andere Welt, eine andere Zeit.

Viele Menschen kennen die Bücher von Christa Wolf und doch ist sie eine der hierzulande unterschätztesten Autorinnen der Gegenwart. Dabei gehören "Der geteilte Himmel", "Kassandra", "Kein Ort, nirgends" oder "Nachdenken über Christa T." zu den wichtigsten deutschen Büchern des 20. Jahrhunderts. 
Mich inspirieren Christa Wolfs Texte immer wieder. Sätze wie "Aufwachen immer noch in einem fremden Licht..." machen mich glücklich. In ihrer Sprache fühle ich mich zu Hause. 

Eines ihrer Bücher, "Ein Tag im Jahr" (Luchterhand, 2003), beschäftigt sich auf eine ganz eigene Art mit dem Thema der vergehenden Zeit.
1935 rief Maxim Gorki in der Moskauer Zeitung "Iswestija" die Schriftsteller der Welt auf, unter dem Titel "Einen Tag der Welt", den 27. September , so genau wie möglich zu dokumentieren.
Christa Wolf reizte diese Idee und so beschrieb sie zwischen 1960 und 2000, jedes Jahr ihren 27. September. Es wurden sehr persönliche Dokumente. 2003 zu einem Buch zusammengefasst, lässt es uns an der Gedankenwelt der Autorin teilhaben und ist gleichzeitig ein wichtiges Dokument der deutschen Nachkriegsgeschichte. 

Eine außerordentliche Rolle spielt in diesem Buch die Zeit. In ihrem Vorwort schreibt sie: "Wie kommt Leben zustande? (...) Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätsehaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht - und vergeht - ein winziges Stück meines Lebens." 
Sie schreibt über die Zeit, die sie für ihren Beruf hat oder nicht hat, sich nimmt oder sich nicht zu nehmen wagt. Das Schreiben ist für sie die Möglichkeit, in die "unerschöpflichen Bereiche des Unbewussten vorzustoßen". Um diesen Zustand der Vertiefung in ein Thema, eine Frage zu erreichen, brauchte sie Zeit, welche sie sich immer wieder von der Zeit mit ihren Kindern und ihrem Mann "stehlen" musste. Oder andersherum, die Zeit mit ihrer Familie stahl ihr Zeit vom Schreiben. Aber sie musste schreiben: "... weil nichts anderes in mir so zwingend ist..."

Die Auseinandersetzung mit anderen Autoren, Freunden und nicht zuletzt mit der DDR liest sich überaus spannend. Eine Ausreise aus der DDR zog sie nie ernsthaft in Erwägung, die BRD war für sie keine Alternative. Auf die Frage, wie konnte ein aufgeklärter, kritischer Mensch wie sie, in der DDR schreiben, leben und Künstlerin sein, findet man viele Überlegungen und wiederum Fragen. Antworten dagegen gibt Christa Wolf nur wenige und schon gar keine Allgemeingültigen. Antworten sind nicht das, was Christa Wolf uns hinterlassen hat, sondern die Ermunterung, sich den kleinen Fragen des eigenen Lebens genau so mutig zu stellen, wie den großen Fragen dieser Welt. Und sie sich mit aller Ehrlichkeit zu beantworten. 

Ich habe durch sie gelernt zu hinterfragen, immer hinter die Kulissen zu schauen, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie hat jedem Menschen selbstständiges Denken zugetraut und war dabei zutiefst menschlich und damit fehlerhaft. Und sie war eine Seherin, wie ihre Kassandra, eine ungehörte Seherin:
27. September 1994: "Diese ganze Republik bewegt sich ziemlich flott nach rechts, und diese Intelektuellen (Anm. der Autorin: gemeint sind die sozialdemokratischen Intelektuellen) schießen aus allen Rohren gegen links. Die Weimarer Republik läßt grüßen, und mir bleibt nachts manchmal der Schlaf weg."
Kommt einem doch irgendwie bekannt vor, oder?




Kommentare

  1. Die Bücher von Christa Wolf sind für mich ebenso ein wichtiger Pfeiler in meinem Leben - besonders als Jugendliche/junge Frau. Ich habe meine Abschlussarbeit im Abitur darüber geschrieben und habe jedes Buch von ihr verschlungen. Von dem her war es wunderbar, hier einen Text zu ihr zu finden...

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